Pécs Stories

2019 war Bettina Spoerri als writer-in-residence in Pécs (Fünfkirchen) in Südungarn eingeladen. Mit dabei war ein Besuch der phänomenalen modernen Konzerthalle in Pécs, ein Ausflug ins bekannte Weingebiet südlich von Pécs, eine Lesung mit Gespräch am zweisprachigen Janus Pannonius Gymnasium und eine Einladung zu einem Workshop mit rund zwanzig Autor/innen aus der ganzen Welt im «Drei Raben», dies im Rahmen des Programms des Internationalen Buchfestivals in Budapest (25.-28. April 2019). Während dieses Residenzaufenthalts entstanden die Pécser Notizen von Bettina Spoerri.

 

Das Pécs writers program (vgl.: https://pecswritersprogram.blog.hu/) wird von Károly Méhes und Enikö Kulcsár betreut. 


Bilder: © Miklós Klaus Rózsa | photoscene.ch

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Pécser Notizen

 

Der Zug von Budapest nach Pécs fährt lange nur ganz zögerlich, bleibt zwei Mal zwischendurch stehen, überall gibt es grosse Baustellen, und wir denken schon, so kommen wir nie an[i], denn nach über einer Stunde tümpeln wir immer noch im Einzugsgebiet der Hauptstadt herum. Doch dann geht es plötzlich schnell voran, die anderen Dreiviertel der Strecke legen wir im Nullkommanichts hinter uns. Kurz vor Pécs allerdings, siehe das Google Maps-Momentbild von meinem Mobile, eine Irritation, denn der Zug, der da noch Pécs anpeilt, scheint es danach plötzlich zu verpassen. Offensichtlich – wenn ich das richtig gesehen habe – umfährt der Zug das grössere Naturschutzgebiet im Norden von Pécs, um sich der Stadt dann vom Westen her anzunähern.

Und dann fahren wir ein. Endstation. Da bin ich also.

Ich soll ein Pécser Tagebuch schreiben, sagt mir Károly Méhes. Nichts lieber als das, über Pécs schreiben und meine Beobachtungen und Erlebnisse und was auch immer in Pécs, denn ich kann ja gar nicht anders, als mir jeden Ort, an den ich komme, neugierig anzuschauen und mir ständig Gedanken darüber zu machen, was ich sehe, verstehe, nicht verstehe, noch wissen will. Ich sollte öfter aufschreiben, was mir alles durch den Kopf geht, vor allem, wenn ich an einem fremden, noch fremden Ort bin, das würde dieses Chaos da drin vielleicht ein wenig mehr strukturieren. Stattdessen konzentriere ich mich meistens auf die literarischen Texte, an denen ich gerade arbeite, und fokussiere nur auf das, was ich gerade an Material dafür brauchen kann. Das Fokussieren ist ja so eine magische Sache. Man zieht förmlich wie ein Magnet das an, was man sucht. Plötzlich scheint die ganze, na ja, ok, nur die halbe oder ein bisschen Welt sich so zu gebärden, als dass sie zeigen müsste, dass der Stoff, das Thema, die Fragen, mit denen ich mich gerade auseinandersetze, einfach überall zu finden ist. Dabei ist es ja eigentlich nur so, dass ich vieles andere, was mich vielleicht sonst interessiert hätte, ausblende, das Licht auslösche, also sträflich vernachlässige, kaltblütig ignoriere, links liegen lasse. Ob man Letzteres im Detail ins Ungarische übersetzen kann? Na, guet Nacht am Sächsi, würde man auf Schweizerdeutsch sagen, das heisst: «Gute Nacht um sechs Uhr».

Warum gerade sechs Uhr, weiss ich auch nicht. Wahrscheinlich ist mit der Redewendung gemeint, dass man schon um sechs Uhr abends schlafen gehen würde bzw. soll, wenn es derart schwierig ist, also eine geradezu unerfüllbare Aufgabe darstellt. Soll also einer, eine alle diese Sprachbilder ins Ungarische übersetzen: ausblenden, das Licht auslöschen, sträflich vernachlässigen, kaltblütig ignorieren, links liegen lassen.

Derweil denke ich über die Gattung Tagebuch nach. (...)

 

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Pécser Notizen - von Bettina Spoerri
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