Jerusalem Film Festival

In Jerusalem lebte Bettina Spoerri mehrere Monate (u.a. in Rechavia), hier besuchte sie immer wieder Zeruya Shalev, Meir Shalev, Michal Govrin und andere Autor/innen zum Gespräch. Und hier war sie im Juli 2018 eingeladen, das Jerusalem Filmfestival zu besuchen; gemeinsam mit Miklós Klaus Rózsa machte sie sich auf die Reise. Es entstanden viele Fotografien und der folgende Text, der zuerst auf cinemabuch.ch veröffentlicht wurde. 


Anzeichen von Metamorphosen

Ein Bericht vom 35. Jerusalem International Film Festival (26.7.-5.8.2018)

Von Bettina Spoerri

 

Opening night im Sultan’s Pool. Die Freiluftarena, welche das Jerusalem International Film Festival bespielen kann, ist spektakulär und um vieles geschichtsträchtiger als z.B. die beliebte Piazza Grande des Locarno Film Festivals: Die Anlage im Hinnom-Tal, die ursprünglich als grosses Becken für die Wasserversorgung der Stadt diente, stammt, so vermuten Archäologen, sehr wahrscheinlich aus der Zeit von Herodes und ist also wohl mehr als 2000 Jahre alt. Um die Zuschauer/innen herum thront eine mächtige Kulisse: rechts die beleuchtete alte Stadtmauer von Jerusalem mit der Zitadelle, links das King David-Hotel und Mishkenot Sha’ananim, das älteste extra-muros-Viertel. Hier haben u.a. schon Eric Clapton oder Bob Dylan gespielt; wohl der einzige Nachteil des Pools ist die nicht ideale Akustik – aber das spielt bei einer Filmvorführung eine etwas weniger grosse Rolle als bei einem Musikkonzert. Die Tribünen füllen sich nur langsam, in den Zugängen werden noch die letzten Taschen kontrolliert, als die Pferde über die riesige Leinwand zu galoppieren beginnen; das Wahrzeichen des Jerusalem Film Festivals gründet auf zwei Säulen: Früher sollen wilde Pferde hier im Tal gelebt haben – aber vor allem führten Muybridges Bewegungsstudien des Pferdegalopps zur Entdeckung der bewegten Bilder und läuteten die Geburtsstunde des Films ein.

Als Programm-Auftakt hat das Leitungsteam des Filmfestivals – Geschäftsführerin Noa Regev und Elad Samorzik, der künstlerische Direktor – für diesen Abend einen Spielfilm zur Premiere ausgewählt, der symptomatisch für die neueste Entwicklung im Filmschaffen Israels ist: «The Unorthodox» von Eliran Malka erzählt die Geschichte des Begründers der israelischen Shas-Partei in Form einer Komödie, mit einem durchaus empathischen Blick für die Weltsicht einer (gemässigten bis strengen) jüdischen Frömmigkeit. Der Film hinterlässt widersprüchliche Gefühle: Manche Szenen des Films lehnen sich in ihrer Zuspitzung in Richtung Slapstick an die Genre-Tradition der Bourekas-Filme an, ethnische Stereotype werden reproduziert statt hinterfragt. Dabei erinnert die Handlung an den Kampf der damals, 1984, in der Politik des Landes noch diskriminierten Sepharden, die sozusagen über Nacht Sitze in der Knesset erhielten. Doch dieses interessante Geschichtskapitel wird hier zum Schauspiel-Kabinett: einem Schelmenstück dreier bauerschlauer Männer, die ihr Ideal gegen die Widerstände engstirniger, konservativer, machthungriger Rabbiner und Politiker behaupten müssen – um schliesslich verraten zu werden und ihren Traum zu verkaufen. Der Film hat mit Blick auf die jüngeren politischen Machtverhältnisse in Israel eine nicht unproblematische unterschwellige Botschaft: Dass die heute ultraorthodoxe Shas-Partei, mächtig in der Koalition mit Netanyahu, wiederholt in die Schlagzeilen gekommen durch Korruptionsfälle und aufgrund u.a. auch der Tatsache, dass sie keine Frauen aufnimmt, doch eigentlich das ‘Herz auf dem rechten Fleck’ hat und ihre politisch-religiösen Überzeugungen zumindest in ihrer Anfangszeit einmal doch nicht ganz so unerbittlich streng umsetzt.

Die politischen Zeichen stehen jedoch eher umgekehrt – je länger sich Netanyahu durch Verbindungen mit dem rechtsnationalen und konservativ-religiösen Parteien-Lager an der Macht hält, umso stärker spürbar, nicht zuletzt für die Kulturschaffenden in Israel. Ein Symptom dafür sind u.a. die erheblichen Kürzungen der staatlichen Gelder für Institutionen wie z.B. Theater und Filmproduktion seit mehreren Jahren. Und die Ministerin für Kultur und Sport, die Likud-Politikerin Miriam Regev, sorgt für wachsende Unruhe in der Kulturszene. Nahm sie 2015 kurz nach ihrem Amtsantritt an der Gay-Pride-Parade in Tel Aviv teil und brachte die konservativen Köpfe im Land gegen sich auf, so hat ihr aktives Eingreifen in u.a. Kurator-Entscheidungen im Bereich Film seither wiederholt zu Protesten von Schauspielern, Regisseuren, Produzenten und Kulturfachleuten geführt. Vor drei Jahren drohte Regev dem Festival mit der Streichung der staatlichen Unterstützung, sollte der Dokumentarfilm «Beyond the Fear» über den Rabin-Mörder Jigal Amir im offiziellen Programm gezeigt werden; sie habe, sagte sie, Tausende von Protestanrufen und -schreiben gegen das Screening des Films erhalten – von Empörten, die den Film noch gar nicht hatten sehen können. Eine ähnliche Situation entstand, als der Film «Foxtrot», u.a. in Israel mit Ophir-Preis, in Venedig mit dem Silbernen Löwen und dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet, als bester fremdsprachiger Film in die Vorauswahl für die Oscarverleihung 2018 kam und Regev – ohne ihn selbst gesehen zu haben – den Film als «antiisraelisch» bezeichnete. Der Regisseur erhielt Todesdrohungen und beschloss, seinen nächsten Film in Hollywood zu drehen; Regev ihrerseits zeigte sich zufrieden, dass «Foxtrot», der «an untruthful worldwide representation of the Israeli army» zeige, es nicht in die allerletzte Oscar-Runde schaffte …

Ein diplomatischer Entscheid war es angesichts dieser angespannten Lage, an der Eröffnung nicht die Politiker – Miriam Regev und u.a. den Likud-Bürgermeister von Jerusalem, Nir Barkat – sprechen zu lassen, sondern den bekannten Schauspieler Lior Ashkenazi, der notabene eine der Hauptrollen in «Foxtrot» spielt. Die Politiker kamen lediglich in einem Trailer zu Wort. Und obwohl Miriam Regev ihre Liebe zum Film hier in Form ihrer Begeisterung für einen unumstrittenen Klassiker («Casablanca») ausdrückt, buhte das cinephile Publikum sie am Eröffnungsabend in ihrer Abwesenheit aus, und zwar jedes Mal, wenn sie in dem Filmchen zu sehen war. Sie hat sich unter den Kulturschaffenden und Kulturaffinen im Land wahrlich keine Freunde geschaffen, zuletzt auch, weil sie die Zusammensetzung der Experten in den Filmförderjurys beeinflussen möchte – um politische Gefolgsleute einzusetzen, ist der Verdacht der durch solche und ähnliche Ankündigungen alarmierten israelischen Filmbranche. Am Jerusalem Film Festival, dem ältesten, 1984 gegründeten Filmfestival Israels – mittlerweile gibt es u.a. in Haifa eines, in Arava im Negev und in Tel Aviv u.a. Docaviv und EPOS – werden die politischen Kämpfe eben stets ausgeprägter als anderswo ausgetragen, wo wie auch viele andere Konflikte in der Stadt kulminieren.

Unmittelbar neben dem unteren Eingang zum Sultan’s Pool befindet sich das Zentrum des Jerusalem Filmfestivals: die Cinematheque von Jerusalem; von der Terrasse des Gebäudes, in dem mehrere Kinosäle, ein Restaurant und das Filmarchiv untergebracht sind, sieht man die Mauer, die unweit von hier 2005 erbaut wurde, um West- und Ostjerusalem zu trennen. Weniger als ein Kilometer von hier spielt auch das Regie-Debüt «Para Aduma» («Rote Kuh») von Tsivia Barkai Yacov, der ex aequo mit einem anderen Film am Festival mit dem wichtigen Haggiag-Filmpreis ausgezeichnet worden ist. Er erzählt von einer extremistischen jüdischen Gemeinschaft, die eine rothaarige Färse aufzieht, in der Hoffnung der Prophezeiung einer neuen Ära, welche die Wiedereinrichtung des (dritten) jüdischen Tempels in Jerusalem ermöglichen soll. Auf diesem Hintergrund behandelt er aber auch die Intoleranz der geschlossenen Gesellschaft gegenüber zwei jungen Frauen, die ihre Homosexualität entdecken.

Am Status von Jerusalem, den politischen Ansprüchen der Palästinenser und der Israeli scheiterten letztlich die Friedensverhandlungen, die Anfang der 1990er Jahre in Oslo, zuerst noch unter strikter Geheimhaltung, stattgefunden hatten. Der Dokumentarfilm «Oslo Diaries» von Mor Loushy und Daniel Sivan rollt den Verlauf der Gespräche noch einmal Schritt für Schritt auf, indem er Tagebucheinträge der verhandelnden Personen – darunter der israelische Diplomat Uri Savir und das damalige Fatah-Mitglied Abu Ala (Ahmad Qurai) –, mit neueren Interviews mit Shimon Peres, Jossi Beilin u.a., Archivmaterial und täuschend echte Reenactments-Szenen mit Schauspielern kombiniert. Das Resultat ist eine akribisch recherchierte, schmerzhafte Zeitreise, die noch einmal an das Tauwetter jener Tage, aber auch die Wendung hin zu einer umso schlimmeren Eiszeit erinnert – und leider auf einige wesentliche Kontextualisierungen und Informationen verzichtet. Es gebe Gesprächspartner, betonen die Regisseure auf der Bühne vor dem Film, es müssten wieder neue Verhandlungen aufgenommen werden. Doch die Fronten sind heute mehr denn je verhärtet, weshalb mancher im Publikum resigniert den Kopf schüttelt. Nicht zuletzt sind gegen Ende des Films die Vektoren in die Gegenwart deutlich, wenn 1995 Benjamin Netanyahu Stimmung gegen Rabin macht und seine Anhängerschaft dem politischen Gegner den Tod wünscht. Weniger als ein Jahr später wurde Netanyahu erstmals zum Ministerpräsidenten gewählt. In den Palästinensischen Autonomiegebieten wurde derweil neben der Fatah die islamistische Hamas gewählt, die in ihrer Charta jegliche friedliche Lösung ausschliesst und die Abschaffung Israels propagiert.

Angesichts der immer wieder eskalierenden Gewalt – während der Festivaltage attackiert ein Palästinenser drei Israeli in einer Siedlung im Norden Jerusalems und tötet einen von ihnen, es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen auf dem Tempelberg, während der Krieg an der Grenze des Gazastreifens andauert – staunt man umso mehr über den Wagemut von Ines Moldavsky. Die junge israelische Filmautorin macht sich in ihrem Kurzfilm «The Men Behind the Wall» via Dating-Apps wie Tinder oder OkCupid auf die Suche nach palästinensischen Männern in der Westbank und Gaza, die wie sie unverbindlichem Sex und auch BDSM-Praktiken nicht abgeneigt sind. Telefongespräche und Skype-Sitzungen münden in einige tatsächliche Begegnungen, zu denen Moldavsky mithilfe ihres zweiten – argentinischen – Passes reist. Die Gespräche auf der Tonspur und vor der Kamera kreisen um Lust und Sexualität, Gender-Klischees und Feindbilder, Gewalt und Grenzen, die Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern – und israelischen Frauen und palästinensischen Männern. Letztlich erfährt man zwar nicht, ob und wie wirklich sexuelle Begegnungen stattgefunden haben und wie viel reine Inszenierung ist; die bewusste Aussparung spielt mit den Fantasien und Projektionen der Zuschauer/innen und lässt sie mit vielen neuen Fragen zurück. Moldavsky überwindet mit ihrem klug konzipierten Film physische und psychische Grenzen und erlaubt mit ihren Aufnahmen überraschende Sichtweisen. Am meisten verblüfft die scheinbare Mühelosigkeit, Zugang zu einem intimen, ja einem Tabu-Bereich des ‘Feindes’ zu finden. An der Berlinale 2018 wurde sie bereits mit dem Goldenen Bären für den Besten Kurzfilm ausgezeichnet, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass dieser Film noch einen erfolgreichen Weg gehen wird.

Andere Filme im Programm des Jerusalem Film Festivals, von denen viele schon an anderen Festivals wie u.a. Cannes, Berlinale, Tribeca, Sundance, Hot Docs in Toronto oder Karlovy Vary zu sehen waren, setzen eher auf bewährte Muster. «This is Home» der amerikanischen Regisseurin und Produzentin Alexandra Shiva beispielsweise dokumentiert die Hürden, die syrische Flüchtlinge während ihrer ersten Monate in Baltimore überwinden müssen: eine halbwegs solid edierte, konventionelle Reportage, wie man sie im Fernsehen oft sieht. «Promise at Dawn» von Eric Barbier ist ein Biopic mit dem Fokus auf die Kindheit und jungen Jahre des Schriftstellers Romain Kacew alias Gary (alias Emile Ajar u.a.m.): aufwändig inszeniert, nicht zuletzt in den Flieger-Kriegsszenen, mit viel Plüsch und Pathos im gezeigten Elend, aber packend gespielt von insbesondere Charlotte Gainsbourg, die eine reife Leistung in der Darstellung von Garys ebenso exaltierter wie couragierter Mutter zeigt.

«Virgins» der israelischen Filmautorin Keren Ben Rafael rückt wie bereits andere israelische Filme die Provinz ins Zentrum; in «Syrian Bride» war es das nördlichste Israel, in «The Band’s Visit» eine ausgestorbene Kleinstadt im Negev, in «Sipur Chetzi Russi» Ashdod – dieser neue Spielfilm nun ist am Strand von Kirjat Yam situiert. Hier geschieht Tag ein, Tag aus kaum etwas, vor allem nicht im Café von Lanas Mutter, zu dem nicht einmal die neue Fussgängerpromenade hinreicht. Bis eines Tages Lana das Seemannsgarn vom Auftauchen einer Meerjungfrau aufgreift und mit Hilfe eines Journalisten verbreitet. Die Stimmung des Films, dessen Handlung auf einem realen Gerücht basiert, erinnert an «Meduzot» von Shira Geffen und «Sipur Chetzi Russi» von Eitan Anner und nimmt wie der neueste Schweizer Filmpreisgewinner «Blue My Mind» oder auch das Musical «The Lure» von Agnieszka Smoczynska den Undine-Mythos auf. Doch es gelingt Ben Rafael nicht, den Stoff in seiner Tiefe aufzufächern – es bleibt bei einem melancholisch angehauchten, ästhetisch und dramaturgisch unentschlossenen, langsamen, aber auch zunehmend langweiligen Film mit Schauspieler/innen, deren frische Schönheit die Kamera verliebt zur Schau stellt.

Das Jerusalem Film Festival, kommentiert die Geschäftsführerin Noa Regev im Pressegespräch, verzichte weitgehend auf Weltpremieren. Es ist kein A-Festival, und der Kampf um künstlerische Highlights und Prominent ist gross. Aber das Programm weist hohe Qualität auf, es bietet sozusagen eine Best of-Auswahl der weltweit renommiertesten Festivals. 2018 hat das Jerusalem Film Festival Filme aus 60 Ländern gezeigt, 30% davon Filme aus israelischer Produktion oder Koproduktionen. Dem filmischen Werk von Chantal Akerman und Christian Petzold waren je ein eigenes Fenster gewidmet. Und das ebenfalls in der Cinematheque beheimatete Israel Film Archive konnte seine Arbeit in Form von u.a. einer mit besonders hoher Auflösung in 4k digital restaurierten Fassung von Assi Dayans Klassiker «Life According to Agfa» vorstellen. Ausserdem hat das Festival in diesem Jahr Filme zusätzlich mit einem Bus in Open-Air-Vorführungen durchs Land geschickt, und es gibt auch hier Industry Days mit Diskussionen, Pitching-Wettbewerben u.v.a.m.

Denn die Errungenschaften und Erfolge der israelischen Filmindustrie können sich sehen lassen, auch im globalen Vergleich. Mehr als fünfzehn Filmschulen gibt es heute in Israel, die Filmszene blüht. Die 1989 vom Filmschaffenden Renen Schorr gegründete Jerusalem Sam Spiegel Film & Television School wirkte als wesentlicher Katalysator in der Entwicklung von professionellen Ausbildungsgängen und Filmfördereinrichtungen bei hohen Anforderungen an künstlerische Qualität: drei Faktoren, welche vor rund 15 Jahren eine starke Renaissance des israelischen Kinos entstehen liessen. Filme aus Israel werden nicht nur von renommierten Festivals weltweit ausgewählt, sondern finden oft auch den Weg in ausländische Kinosäle und in den letzten Jahren sogar wiederholt zu einem Oscar-Nominierungsprozess. Fragt man Schorr persönlich nach dem Erfolgsgeheimnis der Schule, so nennt er mehrere Punkte, allen voran: «If you are moved, it crosses every country.» Will heissen: Mit einer universellen Story erreicht man die Menschen. 2.: Ein guter Film sei kein «a matter of money». 3.: Eine Filmschule müsse Lehrer engagieren, die Macher seien und Leidenschaft besässen. 4.: Projektzusammenarbeit und Networking werde an der Schule gross geschrieben; Regisseure müssen hier alles lernen, also z.B. Schauspieltechniken, Beleuchtungstechnik u.a.m. Und seit einiger Zeit gibt es einen Lehrgang für Produzent/innen. Nir Bergman, Nadav Lapid, Talya Lavie oder Rama Burshtein sind einige der Absolvent/innen der Schule, die mit ihren Filmen internationale Erfolge verbuchen konnten. Und für das Kurzfilmprogramm des Jerusalem-Filmfestivals ausgewählte Beiträge wie «The Men Behind the Wall» oder «Shabbos Kalla» von Aleeza Chanowitz zeigen, dass auch ein talentierter Nachwuchs darauf wartet, sich in der Branche verwirklichen zu können.

Eine etwas andere Filmschule ist die Ma’ale School of Television, Film and the Arts in Jerusalem. Hier studieren vorwiegend Männer und Frauen mit religiösem Hintergrund, denen die Schule eine Art Schutzzone garantiert, indem beispielsweise am Shabbat nicht gearbeitet wird. Aus dieser Schule ist auch eine spezielle Sub-Filmszene entstanden, in der Frauen nur mit und für Frauen arbeiten, mit weiblichen Darstellerinnen und für ein ausschliesslich weibliches Publikum. Video wird hier auch als therapeutisches Mittel, insbesondere in der Arbeit mit Terroropfern, eingesetzt. Doch die Lehrer/innen der Schule sind nicht unbedingt religiös, und 30% der Schüler/innen sind nicht-religiös. Und ultraorthodoxe Frauen, die für den Unterhalt der Familie sorgen, weil sich ihre Männer ausschliesslich dem religiösen Studium widmen, können hier das Filmhandwerk lernen, um z.B. mit Hochzeitsfilmen u.ä. Geld zu verdienen. Doch einige von ihnen beginnen nach und nach, andere, eigene Filmideen zu entwickeln. Und auch hier entstehen Filme, die sich kritisch mit Gesellschaftsfragen auseinandersetzen; zwei gelungene (Kurzfilm-)Beispiele dafür sind die Komödie «The Little Dictator» (2015) von Emanuel und Nurit Cohen über die Ignoranz gebürtiger Israeli gegenüber Kultur und Sprache deutscher Juden oder «Barriers» (2011) von Golan Rise, der die Dilemmata von Soldaten an einem Grenzcheckpoint aufzeigt. Jedoch wird in Filmen aus der Ma’ale-Filmschule selten die Wertgrundlage einer eher konservativen Interpretation der jüdischen Religion in Frage gestellt. Symptomatisch für diese neuere Entwicklung, die mittlerweile auch die israelische Filmszene beeinflusst, sind vermehrt Filme, welche die Welt der Haredim ins Zentrum rücken.

 

Eliran Malka, der Regisseur des anfangs erwähnten Festival-Eröffnungsfilms, war u.a. Autor und Regisseur der Serie «Shababnikim» (2015-2016) des israelischen HOT-TV-Channels, welche mit viel Nostalgie, aber auch Humor und da und dort gar (Selbst-)Ironie in die Welt der Strenggläubigen eintaucht. Diese neuen Serien sind sehr beliebt, gerade auch in den USA; dies ist ebenso an der Yes-TV-Serie «Shtisel», die im charedischen Milieu in Jerusalem situiert ist, zu beobachten: Amazon hat davon sogar die Rechte gekauft und produziert eine Adaption, die in Brooklyn spielt (wo auch bereits der Überraschungserfolg «Menashe» spielt). Sie sind Symptome einer Metamorphose, die im schlechtesten Fall eine Verschiebung anzeigen, welche die Tendenz zum Konservativismus in Religion, Politik und Kultur nicht nur offenlegt, sondern feiert und – mittels Nostalgie und Folklore – verbrämt und verharmlost, im besten Fall aber neue Sichtweisen schafft und eine offene Diskussion um gesellschaftliche Werte und die Verantwortung des Einzelnen auslöst. 

 

Bilder / Video: ©opyright by Miklós Klaus Rózsa | photoscene.ch